29/04/2014
Deutsche Texte
Interview mit Vaclav Klaus für die Bazonline.cz
Opfer der EU sind Demokratie und Freiheit


Tschechiens Ex-Präsident Vaclav Klaus redet über den Umgang des Westens mit Russland, die Fehler der Europäischen Union und das Heraufziehen des postdemokratischen Zeitalters.

Herr Klaus, nach der Annexion der Krim durch Russland wurde der russische Präsident Wladimir Putin verschiedentlich mit Adolf Hitler verglichen, der sich 1938 das tschechoslowakische Sudetenland nahm. Was sagen Sie als Tscheche dazu?

Diesen Vergleich halte ich für vollkommen falsch. Ich bin beileibe kein Anwalt Putins oder Russlands, doch erleben wir heute in Europa und Amerika eine Gehirnwäsche, die absolut bizarr ist. Die Ukraine ist in zwei Hälften gespalten. Westeuropa und die USA haben das Land gezwungen, sich zwischen Ost und West zu entscheiden. Eine solche Richtungsentscheidung zum jetzigen Zeitpunkt musste die Ukraine zerreissen. Ebendies ist nun geschehen.

Sie meinen also, der Westen verstehe Russland nicht. Welche Missverständnisse bestehen denn in Amerika und Westeuropa?

Ich bin kein Russland-Experte. Wir hatten zwar über Jahrzehnte das gleiche politische und wirtschaftliche System wie die Sowjetunion, aber sonderlich interessiert für das Land haben wir uns nie. Ich bin auch jetzt viel öfter in Deutschland oder in den USA als in Russland. Leider gibt es bei uns bis heute starke Vorbehalte gegenüber Russland. Mein Freund, der bekannte tschechische Karikaturist Ivan Steiger, sagte mir letzte Woche: «Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 musste ich die Tschechoslowakei verlassen. Seither hasse ich Russland.» Ich fragte ihn: «Solltest du nicht ‹Sowjetunion› anstatt ‹Russland› sagen?» Diesen Unterschied muss man nämlich machen. Steiger aber fuhr fort: «Ich hasse die Russen so sehr, dass ich nicht einmal russische Literatur aus dem 19. Jahrhundert lese.» – «Aber man kann doch nicht Dostojewski ablehnen wegen der Ereignisse, die sich 1968 in der Tschechoslowakei abgespielt haben!», entgegnete ich ihm.

Aber besteht nicht zumindest eine gewisse Kontinuität zwischen der Sowjetunion und dem heutigen Russland? Immerhin ist Putin ein früherer KGB-Mann.

Seit dem Ende der Sowjetunion hat sich doch einiges geändert. Während meiner Amtszeit als Präsident habe ich einige Male Dmitri Medwedew getroffen, Putins Nachfolger und Vorgänger im Amt. Dabei habe ich gespürt, dass er einer neuen Generation angehört. Als der Kommunismus fiel, befand sich Medwedew am Ende seines Studiums. Mit dem alten Regime hatte er nichts mehr zu tun.

Man muss also nachsichtig sein mit den Russen und ihnen mehr Zeit geben?

Russland stand 70 Jahre unter kommunistischer Herrschaft, nicht nur 40 Jahre wie wir. Vor diesem Hintergrund betrachte ich die Entwicklung des Landes in den letzten 20 Jahren als relativen Erfolg. Wenn ich die Erwartungen, die ich beim Fall des Kommunismus hatte, mit dem heutigen Zustand des Landes vergleiche, fällt meine Bilanz so schlecht nicht aus. Das heisst natürlich nicht, dass Russland nun eine Demokratie wie die Schweiz oder die Tschechische Republik wäre.

Auch in Bezug auf die Europäische Union haben sich nicht alle Hoffnungen erfüllt, die manche in sie gesetzt haben. Wie fällt Ihre Bilanz zehn Jahre nach dem Beitritt Ihres Landes aus?

In Tschechien war ich einer der wenigen, die von Anfang an darauf hinwiesen, wir sollten uns von der EU nicht allzu viel versprechen. Die Erwartungen vieler meiner Landsleute hingegen waren nach der Wende sehr hoch, auch wenn nur die wenigsten das Paradies erwartet haben. Am Ende ist es schlimmer geworden, als wir gedacht haben: Als Regierungschef habe ich den Staat zurückgedrängt, durch die EU hat er wieder an Einfluss gewonnen. Wir haben die Eigenverantwortung der Bürger gestärkt, heute gibt es wieder mehr Abhängigkeit vom Staat. Leider muss ich sagen, dass ich für die jetzige Situation mitverantwortlich bin: 1996 habe ich als Premierminister unseren Bewerbungsbrief an die EU unterzeichnet, 2004 als Präsident den Vertrag, der unsere Mitgliedschaft besiegelte.

Hätte es für Tschechien denn eine Alternative zum EU-Beitritt gegeben?

Sicher gibt es eine Alternative, das zeigt uns ja die Schweiz. Doch leider befanden wir uns Anfang der 1990er-Jahre in einer ganz anderen Situation. Nach 40 Jahren Kommunismus sehnten wir uns danach, wieder ein normales europäisches Land zu sein. «Zurück nach Europa» lautete der Slogan, der im November 1989 an jeder Strassenecke zu lesen war. Ich wies schon damals darauf hin, dass man Europa und die EU nicht gleichsetzen sollte. Doch es erwies sich als nahezu unmöglich, diesen Unterschied den Leuten begreiflich zu machen. Nach dem Beitritt wurde ich in Westeuropa dann mit den Worten beglückwünscht: «Willkommen in Europa!» Da entgegnete ich jeweils: «Ich war immer in Europa, ich war immer Europäer, sogar zu Zeiten des Kommunismus.» Mittlerweile hat sich der Zeitgeist in Tschechien allerdings geändert. Vergangene Woche hielt ich in Prag eine Rede vor Studenten. Zehn Jahre Mitgliedschaft in der EU seien kein Grund zum Feiern, sagte ich. Am Ende erhielt ich Beifall.

Müssten denn nicht gerade Sie als Liberaler der EU positiver gegenüberstehen? Immerhin übte die Union auf ihre Mitgliedsländer einigen Druck aus, Liberalisierungen in zahlreichen Bereichen durchzuführen.

Mit der EU hat das alles nichts zu tun. Freihandel und Liberalisierungen waren die Konsequenz der ersten Etappe der europäischen Integration, die im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft stattfand. Den entscheidenden Wendepunkt stellte der Vertrag von Maastricht 1992 dar: Aus der Integration wurde nun ein Prozess der Vereinheitlichung. Der Lissaboner Vertrag von 2007 verstärkte diese Entwicklung. Die EU steht für einen noch nie da gewesenen und dabei vollkommen uneuropäischen Zentralismus. Die Opfer dieses Zentralstaates werden Demokratie und Freiheit sein.

Hat die Tschechische Republik von Brüssels finanziellen Zuwendungen denn nicht enorm profitiert?

An solchen Zuwendungen bin ich nicht interessiert. Wir sind nicht auf die Hilfe armer Länder wie Portugal oder Griechenland angewiesen. Besonders hoch waren diese Zahlungen ohnehin nicht: Sie betrugen ungefähr 0,85 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts. Ein irrelevanter Betrag, der zeigt, dass die Kosten-Nutzen-Rechnung für uns nicht vorteilhaft ausfällt, denn im Gegenzug ist die EU-Mitgliedschaft an zahlreiche Bedingungen geknüpft, die wir erfüllen müssen. Spanien und Portugal haben in den 80er- und 90er-Jahren noch Subventionen aus Brüssel bekommen, die zwischen sechs und acht Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmachten. Nicht, dass ich mich danach sehnen würde, denn Sie sehen in diesen Ländern Autobahnen, auf denen kaum einer fährt und ganze Quartiere, die leer stehen. Zudem sind EU-Subventionen bis heute überall in Osteuropa der eigentliche Nährboden für Korruption.

Dennoch sollten sich die Subventionen der EU auf die Infrastruktur Ihres Landes positiv ausgewirkt haben.

Tatsächlich floss das meiste Geld in den Bau von Velowegen, was ich absurd finde, auch wenn ich selbst drei Velos besitze. Als Präsident habe ich wahrscheinlich mehrere Hundert Anlässe in Dörfern und Kleinstädten besucht, auf denen die Einweihung eines Velowegs gefeiert wurde und ein Bürgermeister sagte, welch grosse Hilfe durch die EU seiner Gemeinde zuteil geworden sei.

Sie sagten einmal, das Wort vom «Demokratiedefizit» sei im Hinblick auf die EU noch sehr diplomatisch. Wenn Sie es undiplomatisch ausdrücken dürften, was würden Sie sagen?

Die Rede vom «demokratischen Defizit» halte ich in der Tat für einen Euphemismus. Es besteht hier nicht nur ein Defizit, sondern ein Mangel an Demokratie. Wir befinden uns eigentlich in einer postdemokratischen Phase. Von einem Defizit reden heute selbst Spitzenpolitiker der EU, was mich an die Zustände im früheren Ostblock erinnert: Auch dort war es möglich, gewisse Missstände zu kritisieren, etwa die überbordende Bürokratie. Das Machtmonopol der Kommunistischen Partei infrage zu stellen, blieb aber immer ein Tabu.

Könnte man derartige Mängel denn nicht beheben?

Wahrscheinlich genügen Reformen nicht. Auch im Kommunismus sprachen die Regierungen andauernd von Reformen, die notwendig seien, um gewisse Schwierigkeiten zu beheben. Nach dem Fall des Kommunismus haben wir in unserem Land ganz bewusst gesagt: «Wir führen keine Reformen durch, sondern einen Systemwechsel.» Auch die EU bräuchte heute einen solchen Paradigmenwechsel. Kosmetische Reformen, wie sie in Brüssel auf irgendeiner Sitzung um vier Uhr morgens beschlossen werden, sind da nicht ausreichend. Die entscheidende Frage ist, in welchen Zeiträumen Sie denken. Dass sich morgen oder übermorgen oder nach den kommenden EU-Wahlen etwas ändern wird, ist absolut unrealistisch. Langfristig muss man aber optimistisch sein. Ich hoffe, dass eines Tages eine friedliche Revolution einen wirklichen Wandel herbeiführen wird. Wir Tschechen haben Erfahrung darin. Dass dies noch zu meinen Lebzeiten geschieht, erwarte ich allerdings nicht.

Sie sind auch immer wieder als scharfzüngiger Kritiker der europäischen Währungsunion aufgetreten. Glaubt man Europas Staats- und Regierungschefs, ist die Euro-Krise längst überwunden.

Die akute Krise ist erst einmal vorbei, aber die Krise an sich keineswegs. Bildlich gesprochen stellt die akute Krise der letzten Jahre nur die Spitze eines Eisberges dar. Es ist absolut irrational, eine gemeinsame Währung für eine so grosse Zahl teilweise sehr heterogener Staaten einzuführen. Das ist ähnlich absurd, als wollte man uns dreien dieselbe Hemdgrösse vorschreiben. Der Euro ist im Grunde nur eine extreme Version eines Systems von festen Wechselkursen. Ob es besser ist, feste oder flexible Wechselkurse zu haben, ist eine Debatte, die wir Ökonomen seit bald 200 Jahren führen. Bisher sind alle Systeme, welche die Wechselkurse fixierten, gescheitert. Für eine Währungsunion bräuchte es das, was Wirtschaftswissenschaftler als «optimale Währungszone» bezeichnen. Mit sechs oder acht Ländern mag das möglich sein, mit 17 oder 18 jedoch auf keinen Fall. Der Euro ist eine idealistische Idee von Politikern, die damit die Geschichte zum Stillstand bringen wollten.

Die Beziehungen der EU zur Schweiz befinden sich derzeit in einer schwierigen Phase. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Zustimmung der Schweizer Bevölkerung zur Masseneinwanderungs-Initiative?

Wir Tschechen respektieren die verfassungsmässige Ordnung der Schweiz und den Schweizer Volkswillen. Aufgrund der guten Konjunktur und ihres Sozialstaats ist die Schweiz ein überdurchschnittlich attraktives Ziel für Personen aus der EU. Jeder souveräne Staat sollte das Recht haben, eine solche Entscheidung zu treffen. Schauen Sie: Ich erachte es als ein Menschenrecht, überallhin zu reisen, wo ich will. Aber ich habe es nie als Menschenrecht betrachtet, mich überall niederlassen zu können. Letztlich untergräbt die Personenfreizügigkeit die Regierungsfähigkeit der Nationalstaaten und stärkt damit den Superstaat EU. Darum ist dieses Prinzip für Brüssel so wichtig und der Entscheid der Schweiz für die EU so gefährlich.

Wie wird die EU auf das unwillkommene Resultat reagieren?

Die Abstimmung ist für mich ein ungeplantes Experiment, wie die EU mit abweichenden Meinungen umgeht. In Brüssel wurde das Resultat völlig falsch interpretiert, weswegen Politiker und Bürokraten konsterniert und panisch reagierten.

Erlauben Sie uns eine letzte Frage: Welche Zukunft hat die Freiheit in Europa?

Es ist nicht nur so, dass die Freiheit in Europa bedroht wäre, nein, sie besteht schon jetzt nur noch in eingeschränktem Mass. Die Krisen der letzten Jahre haben diese Tendenz noch beschleunigt: Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die 2008 begann, hat zu staatlichen Interventionen im Sinne des Keynesianismus geführt. Nun haben wir die Krise in der Ukraine, und ich rechne damit, dass auch sie zum Anlass genommen werden wird, Zentralisierung und Vereinheitlichung in der EU weiter voranzutreiben.

Veröffentlicht in bazonline.ch, 29. April 2014.